In ihrem Buch “Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus” entwirft Shoshana Zuboff ein düsteres Szenario von der Zukunft. Ihre These: Die großen Tech-Unternehmen sammeln Daten und erstellen daraus Prognosen vom zukünftigen Verhalten der Nutzer. Diese Prognosen verkaufen sie an die Werbeindustrie und das geht umso profitabler, desto genauer sie sind. Deshalb versuchen die Unternehmen zunehmend, das Verhalten der Nutzer so zu manipulieren, dass sie diesen Verhaltensprognosen entsprechen. Das heißt, wir werden nicht nur überwacht und getrackt, sondern auch manipuliert. Am Ende steht totale Kontrolle.
Der kanadische Science Fiction-Autor und Aktivist Cory Doctorow hält das für eine falsche Einschätzung. In seinem gerade erschienenen Buch “How to destroy the Surveillance Capitalism” argumentiert er, dass nicht Gedankenkontrolle das zentrale Problem ist, sondern die Monopolmacht der Konzerne. Diese müsse zerschlagen werden.
Wer:
* Cory Doctorow, Science Fiction-Autor
* Vera Linß, Medienjournalistin
Was: Interview über die Rolle von Monopolen
Wann: September 2020
Vgl.:
* Interview bei DLF Kultur, Breitband, 19.09.2020
* Rezension zum Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Diagnose von Shoshana Zuboff nicht zutrifft. Was stimmt daran nicht?
Zuboff hat völlig richtig beobachtet, dass es riesige Probleme mit den Datenmengen gibt, die die großen Tech-Firmen über uns sammeln. Aber sie nimmt an, dass der Grund für das Datensammeln darin besteht, dass sie damit unser Verhalten kontrollieren können, indem sie uns manipulieren. Und der beste Beweis dafür seien die Unternehmen selbst, die an Werbetreibende unsere Daten mit dem Versprechen verkaufen: Wir können menschliches Verhalten manipulieren.
Aber es gibt nicht allzu viele Beweise dafür, dass sie das können. Stattdessen, glaube ich, gibt es eine andere Antwort darauf, wie die Tech-Firmen uns manipulieren und warum sie die ganzen Daten sammeln: Nämlich, weil sie ein Monopol haben! Wenn du ein Monopol hast und damit alle meine Freunde als Geiseln halten kannst, zum Beispiel bei Facebook. Oder wenn du der einzige Ort bist, wo Menschen nach Informationen suchen, weil du Google bist. Oder wenn du entscheidest, welche Software auf ihren Telefonen laufen darf und wer sie reparieren darf, wie Apple, dann kannst du wirklich Verhalten kontrollieren. Aber nicht, indem du mich mit Daten täuschst und steuerst, sondern einfach mit dem, was Monopole schon immer getan haben.
Egal ob es sich um Bier handelt, um Brillen, um Energie oder sogar beim professionellen Wrestling: Alles wird durch ein paar dominante Firmen kontrolliert. Und sie sind alle dominant geworden, indem sie ihre Konkurrenten aufgekauft haben.
Wie Sie die Monopole beschreiben: Würden Sie sagen, diese Auswirkungen sind schlimmer, als die Gedankenkontrolle, von der Shoshana Zuboff ausgeht?
Lassen Sie uns erst darüber sprechen, wie plausibel die Vorstellung der Gedankenkontrolle ist. Man sagt, außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Beweise. Und es gibt nicht viele Beweise dafür, dass sie ein Gehirn-Kontroll-System gebaut haben könnten. Alle, die jemals so etwas geschaffen haben wollen, sei es die CIA mit MK Ultra oder Joseph Goebbels, der jeden gezwungen hat, zwei Stunden Propaganda-Radio am Tag zu hören oder die Pick-Up-Artist-Bewegung, die meint, jede Frau zum Sex mit ihnen überzeugen zu können, wenn nur die richtigen Worte gesagt werden oder jede andere, der behaupten würde, Gedanken kontrollieren zu können: Sie lügen! Sie belügen sich selbst oder die Öffentlichkeit und manchmal auch beides.
Ich glaube, dass der große Schaden, der von Monopolen ausgeht, durch Korruption entsteht. Das sehen wir bei Monopolen immer wieder. Wir sehen, wie sie Arbeitsstandards unterwandern, wie sie Steuern hinterziehen und vermeiden. Es ist kein Zufall, dass jedes Tech-Unternehmen in der EU sein Headquarter dort hat, wo die größten Steueroasen sind. In Malta, wo dein Auto in die Luft gesprengt wird, wenn du dort Korruption und Steuerhinterziehung berichtest. Oder in Luxemburg, einem kriminellen Unternehmen mit einem Land dazu. angeknüpft. Oder in Irland, einem weiteren Steuerparadies.
Die Monopole zerstören den Gedanken, dass es ein Regelsystem für alle gibt, dass Gesetze für alle gleich gelten. Es führt dazu, dass das Vertrauen in unsere Regierungen zusammenbricht. Dann wird ihnen auch nicht mehr geglaubt, wenn es um den 5G-Ausbau geht oder um Migration oder alle möglichen Angelegenheiten.
Der Grund, weshalb manche Menschen meinen, dass Impfungen eine schlechte Idee sind und weshalb sie andere mit dieser Idee überzeugen können, liegt daran, dass sie damit argumentieren, dass die Pharmakonzerne korrupt sind. Und damit haben sie Recht!
Die Monopole der Pharmaindustrie sind korrupt. Sie haben Opiate überall auf der Welt verkauft, obwohl sie wussten, dass sie gefährlich sind. Und die Aufsichtsbehörden haben sie nicht daran gehindert und damit Millionen Menschen getötet. Wenn die Aufsichtsbehörden wirklich durchgreifen und die Pharma-Industrie bestrafen würden, dann würde die Theorie der Impfgegner zusammenbrechen. Das ist reale Gefahr, wenn man Monopole zulässt. Es zerstört unser Vertrauen darin, die Wahrheit darüber zu wissen, wie die Dinge ablaufen. Denn wir können den Prozessen nicht länger vertrauen.
Sie schlagen vor, die Monopole zu bekämpfen. Sie vielleicht sogar zu zerschlagen. Wie kann das funktionieren?
Schritt für Schritt. Ein Biss nach dem anderen. So, wie man einen Elefanten isst: Ein Biss nach dem anderen. Die ersten Aktionen werden lange dauern. Als die USA ein Kartellrechtsverfahren gegen IBM eingeleitet haben, hat sich das zwölf Jahre hingezogen. Pro Jahr hat dieser eine Prozess IBM mehr Geld gekostet, als die ganze US-Behörde insgesamt für kartellrechtliche Verfahren ausgegeben hat. Es war sehr teuer und sehr langwierig. Letztendlich hat die US-Regierung aufgegeben.
Aber während dieser Zeit hat sich IBM besser benommen. Sie haben zum Beispiel kein eigenes Betriebssystem gebaut und Microsoft eines in ihrer Infrastruktur entwickeln lassen. Denn IBM hatte Angst, zerschlagen zu werden. Das Problem mit dem zwölf Jahre dauernden Verfahren gegen IBM sind nicht die zwölf Jahre, sondern der Fakt, dass wir aufgegeben haben. Hätten wir unsere Klingen scharf gehalten und wäre Ronald Reagan nicht Präsident gewesen – er war derjenige, der das Verfahren einstellte – dann hätten wir einen Präzedenzfall gehabt, um das nächste Monopol zu zerschlagen. Und dann das nächste und das nächste.
Wenn wir beginnen, den Monopolen zu drohen und sie zu regulieren, dann verhalten sie sich besser. Dann ist es leichter, sie daran zu hindern, immer weiter zu wachsen. Und erinnern Sie sich: Monopole sind nicht nur ein Tech-Problem. Sie sind es in jedem Industriezweig. Das ist ein bisschen wie in der Umweltbewegung, bevor es eine Bewegung war. Es gab weltweit verschiedene Gruppen, die bestimmte Probleme angeprangert und gute Arbeit geleistet haben, sich aber nicht als Teil eines gemeinsamen Projektes ansahen – bis der Begriff “Ökologie” aufkam. Und damit die Erkenntnis, dass jedes kleine Problem Teil eines großen ist. So entstand die ökologische Bewegung.
Wir stehen am Beginn einer Bewegung für Wettbewerb und Pluralismus. Wir stellen Gemeinsamkeiten her mit Leuten, die sauer sind, weil alle Taxiunternehmen der Welt im Besitz von ein paar Tech-Giganten sind oder weil das Finanzwesen und alle Brillen und Kontaktlinsen einer Handvoll Unternehmen gehören. Alle zusammen können wir Veränderung herbeiführen – indem wir diese Angelegenheiten in einer Bewegung zusammenführen.
Das wollte ich fragen: Würden Sie sagen, dass wir eine Bewegung von unten brauchen? Dass die Leute sagen: Diese Monopole wollen wir nicht länger haben!
Ich denke, wir brauchen ein Spiel, das innen und eins, das außen spielt. Es gibt Politiker, die mögen Monopole, weil sie später für sie arbeiten können. Aber viele sind auch in die Politik gegangen, weil sie der Allgemeinheit dienen möchten. Und diese mögen es überhaupt nicht, dass sie wie Angestellte für die Monopole agieren sollen. Sie würden diese gern bekämpfen, aber sie haben nicht das Gefühl, dass dies dem politischen Willen entspricht. Sie denken, wenn sie es versuchen würden, dann würde die Öffentlichkeit das nicht gut finden. Erst wenn deutlich wird, dass die Gesellschaft es möchte, werden diese Politiker auch handeln.
Roosevelt war der erste Präsident, der die Kartelle eingeschränkt hat. Nach seiner Wahl war die Bürgerrechtsbewegung zu ihm gekommen und hat Veränderungen gefordert. Da hat er gesagt: Ich möchte etwas ändern, aber ihr müsst mir dabei helfen. Politiker sind keine Diktatoren. Sie können nur bis zu einem bestimmten Punkt gegen die Bevölkerung agieren. Wenn sie den öffentlichen Willen hinter sich haben, dann können sie ihren Job sehr viel einfacher machen.
Besteht nicht das Hauptproblem darin, dass wir nicht in der Lage sind, Alternativen zu sehen? Dass wir denken, wir können nicht ohne die großen Tech-Unternehmen leben, dass wir Facebook brauchen, weil es keine alternativen Netzwerke gibt?
Alles ist unmöglich, solange, bis es nicht mehr unmöglich ist. Was wir brauchen sind normative Veränderungen. Wir müssen unsere Erwartungen an Technologie ändern. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als das Internet nicht nur aus fünf verschiedenen riesigen Webseiten bestand, die Screenshots von den anderen vier enthalten. Viele Leute fühlen genauso wie ich. Es gibt keinen Grund, dass man Menschen überwachen muss, um eine Suchmaschine zu betreiben. Das war eine Entscheidung. Wir können eine andere Entscheidung treffen. Eine Suchmaschine muss kein Werbeunternehmen sein. All diese Dinge sind Zufälligkeiten. Man konnte sich das alles nicht vorstellen, bevor es da war. Und was als nächstes kommt, kann man sich genauso wenig vorstellen, bis es existiert. Dabei kann es übrigens helfen, ein Science-Fiction-Autor zu sein.