Digit@l China. Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde
Kristin Shi-Kupfer
190 Seiten, 16,00 Euro (Taschenbuch) /11,99 Euro (E-Book)
C.H. Beck, München 2023
ISBN: 978-3406791130
Wer:
* Vera Linß, freie Medienjournalistin
* Jörg Wagner (Moderation)
Was: Studiogespräch, Rezension
Wann: 27.05.2023, 18:43 Uhr
Wo: rbb; radioeins-Medienmagazin
Gestalter der Digitalisierung in China
Die Digitalisierung in China wird durch eine große Vielfalt an Protagonistinnen vorangetrieben. Sie genauer in den Blick zu nehmen, mahnt die Sinologin Kristin Shi-Kupfer.
China und Digitalisierung – da denken die meisten hierzulande zuallererst an Repression. An die Totalkontrolle durch ein Social-Scoring-System, die Zensur der Internetkommunikation und die Unterdrückung von Minderheiten. An einen starken Staat und die mitlaufende Masse, aus der hin und wieder ein mutiger Oppositioneller hervorsticht. Für Kristin Shi-Kupfer greift diese Sicht zu kurz. Besonders stört sie, dass die Bedeutung einzelner Individuen beim Aufstieg des Landes zur digitalen Weltmacht übersehen wird. Diese agierten zudem mit widersprüchlichen Interessen. Deshalb fordert die Sinologin mit Blick auf China eine „Perspektive der Ambivalenz“.
Und diese ist dringend nötig! Sieben Bereiche nimmt Kristin Shi-Kupfer unter die Lupe. Die Welt der Behörden und Beamten, die Chinas Digitalpolitik planen. Die Geschäftsleute, die mit der Digitalisierung reich werden. Die IT-Spezialisten und Softwareentwickler wie auch die Aktivisten und Bürgerrechtler, die sich über digitale Medien Gehör verschaffen. Und nicht zuletzt die Konsumenten, Hacker und Influencer. Jedes Kapitel verknüpft sie mit den Werdegängen von Protagonisten, die Chinas digitale Welt prägen oder geprägt haben, die hierzulande aber wenig bekannt sind.
Wie etwa Lu Wei, der erste Chef von Chinas Cyber Administration, die das Internet reguliert. Mit Fleiß und rhetorischem Geschick schaffte er es vom Lehrer zum obersten Zensor. Seine Karriere endete jäh vor Gericht – wegen Bestechung in Millionenhöhe. Im Kontrast dazu: der glamouröse Aufstieg von Huang Wei alias Viya, die als „Livestream-Königin“ berühmt wurde – dank ihrer erfolgreichen Live-Verkäufe auf der Plattform Taobao. Einflussreich ebenso die Aktivitäten von Jan und Katt Gu, die sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Techbranche stark machen und damit einen Nerv treffen.
Doch Kristin Shi-Kupfer gibt nicht nur der Digitalisierung ein Gesicht. Sie erläutert auch, wie komplex die Verhältnisse sind, in denen diese Vorreiter agieren. Stets gibt es mehr als nur eine Triebkraft in ihrem Handeln. Gut sichtbar wird dies am Beispiel der ersten Gründer großer Digitalunternehmen in China – wie AliBaba-Chef Jack Ma und seiner Mitstreiterin Lucy Peng. Ihr professionelles Interesse, nach westlichem Vorbild Geld zu verdienen, musste immer wieder abgeglichen werden mit den Loyalitätsforderungen der chinesischen Regierung. Chinas bekanntester E-Sportler Wang Chunyu oder die Krypto-Künstlerin Song Ting dagegen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung, Rebellion und kultureller Zugehörigkeit. Anderen, wie Jan und Katt Gu, geht es einfach „nur“ um Gerechtigkeit.
Deren Engagement relativiert zwar nicht Chinas Stellung als politischer Gegner des Westens. Denn der chinesische Staat lässt sie nur nach Gutdünken gewähren. Gleichzeitig belegt Kristin Shi-Kupfer mit ihren Recherchen aber auch: Die Digitalisierung ist von Umbrüchen und Überraschungen gezeichnet, die den autoritären Staat enorm herausfordern. Das Social-Scoring-System etwa gibt es – entgegen gängiger Annahmen – noch immer nicht flächendeckend. Chinas Internet ist zu fragmentiert, der Widerstand zu groß. Solche Details in den Blick zu nehmen, mahnt Kristin Shi-Kupfers erhellendes Buch. Denn nur damit, so ihr kluger Schluss, kann der Westen auch in China Verbündete für eine demokratische Politik finden.